JUGENDSTIL. DIE GROSSE UTOPIE

17. Oktober 2015 bis 28. Februar 2016

„Wir ziehen die Nebelkappe tief über Aug' und Ohr, um die Existenz der Ungeheuer wegläugnen zu können [...]“Karl Marx, Das Kapital, 1867

Mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert verändern große technische und wissenschaftliche Errungenschaften die Welt. Die neue Geschwindigkeit und der durchschaubare Mensch dank Röntgenstrahlung und Psychologie machen Angst. Die negativen Folgen der industriellen Massenproduktion bekommt vor allem die arbeitende Bevölkerung zu spüren. Prekäre Arbeitsbedingungen, mangelnde Hygiene und Armut werden jedoch lange ignoriert. „Wie wollen wir leben“, fragen Philosophen, Künstler und Architekten und entwerfen alternative Lebenswelten, die den Menschen aus seinem Elend verhelfen sollen. Jugendstil. Die große Utopie zeichnet diese Epoche der Reformen und des Aufbruchs nach. So entsteht das vielschichtige Bild einer Gesellschaft, die sich zwischen Kapitalismuskritik, Natursehnsucht, Freiluftsport, Industrialisierung und der Entdeckung der Psyche neu zu erfinden versucht.

William Morris, Dekorationsstoff Strawberry Thief, London, 1883, © MKG
Foto: Luther & Fellenberg
Foto: Luther & Fellenberg
Strandsport in Wyk auf Föhr, Sanatorium Carl Gmelin, um 1912, Friesenmuseum, Sammlung Familie Ingwersen, © Fotoarchiv Ingwersen Wyk
Loïe Fuller, Serpentinentanz , 1900, 1 Min., koloriert, © Filmoteca de Catalunya

Leben und Tanzen im Licht

Die Entdeckungen und Erfindungen um 1900 umfassen alle Lebensbereiche. Innovationen lösen gleichermaßen Angst und Euphorie aus. Die Künstler und Vordenker der Zeit experimentieren mit Elektrizität, Licht und Bewegung sind Leitbegriffe der Lebensreform – Sonnenlicht soll sogar über die Nahrung einverleibt werden. Um dem degenerierten Stadtmenschen, der keinen Zugang zur Natur hat, die wohltuende Wirkung von Licht zuteilwerden zu lassen, bedient man sich einer elektrischen Lösung. Das Lichtbad Solar sollte Licht und Wärme an alle Stellen des menschlichen Körpers bringen, um seine heilende Wirkung zu entfalten. Loïe Fuller nutzt Licht als künstlerische Ausdrucksform. Ihre Tücher und Schleier ließ sie während des Tanzes von farbigen Scheinwerfern bestrahlen. So schien sich ihr Körper durch die Lichtreflexe in Formen und Farben aufzulösen.


Wir wollen einen innigen Kontakt zwischen Publikum, Entwerfer und Handwerker herstellen und gutes, einfaches Hausgerät schaffen. Wir gehen vom Zweck aus, die Gebrauchsfähigkeit ist uns erste BedingungJosef Hoffmann und Koloman Moser, Arbeitsprogramm der Wiener Werkstätte, 1903

Quadratur der Marke

Wien bildet um 1900 einen Kristallisationspunkt der Moderne. Unter dem Einfluss fernöstlicher Ideen begeistert man sich für die Aufhebung der Trennung zwischen hoher und niedriger Kunst. Vorreiter sind die Wiener Werkstätten. Als eine der ersten Designerkooperativen erkennt sie die Bedeutung der Marke zur Sicherung des eigenen Marktwertes. Jedes für die Wiener Werkstätte produzierte Objekt trägt die registrierte Schutzmarke sowie das Monogramm der Werkstätte, des Entwerfers und des ausführenden Handwerkers. Erweitert wird die Marke durch ein Corporate Design. In seiner charakteristischen schwarz-weißen Ornamentik umfasst es Publikationen, Geschäftspapiere ebenso wie die Ausstellungsgestaltung und Plakate.

Foto: Luther & Fellenberg
Foto: Luther & Fellenberg
Foto: Luther & Fellenberg

Tapete mit Abschlussborte, Entwurf: Henry van de Velde

Wohnen und Sammeln

Um 1900 stehen in den Kunstgewerbemuseen die Zeichen auf Neubeginn. Ein neues Konzept markiert den Umbruch vom Museum als Vorbildersammlung zum Sammlermuseum: statt historisch wird von nun an zeitgenössisch gesammelt. Justus Brinckmann, Gründungsdirektor des MKG, gehört zu den ersten deutschen Museumsleitern, die sich aktiv für zeitgenössisches französisches Kunsthandwerk einsetzen. Unter der Vorgabe „eine Auswahl vom Besten unserer Zeit zu erstehen“, tätigt Justus Brinckmann 1900 auf der Weltausstellung in Paris umfangreiche Neuerwerbungen vom Möbel bis zum Bucheinband. Für die Präsentation der neuen Exponate erwirbt er außerdem mehrere Schauschränke und Vitrinen. Seine Einrichtung des sogenannten Pariser Saals beruht auf der Idee, beim Museumsbesucher den „Eindruck einer bewohnbaren Halle hervorzurufen, wie solche sich etwa ein Freund oder Sammler neuzeitiger Kunst einrichten möchte.“ Die gegenwärtige Einrichtung des Pariser Saals ist von diesem historischen Konzept inspiriert, das sich anhand von Fotografien rekonstruieren lässt.

Foto: Luther & Fellenberg
Foto: Luther & Fellenberg
Foto: Luther & Fellenberg

Katalog zur Ausstellung

Hrsg. von Sabine Schulze, Claudia Banz und Leonie Beiersdorf anlässlich der gleichnamigen Ausstellung und der Neueröffnung des Sammlung Jugendstil im Oktober 2015. Mit Beiträgen von Nora von Achenbach, Claudia Banz, Leonie Beiersdorf, Jürgen Döring, Thomas Gilbhard, Simon Klingler, Angelika Riley, Esther Ruelfs, Sabine Schulze, Sven Schumacher. Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 2015, 208 Seiten, Broschur, über 200 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-923859-84-9, 24,90 Euro, In der Buchhandlung Walther König im MKG erhältlich. Eine Leseprobe gibt es hier.


Die Ausstellung wurde ermöglicht durch Mittel aus dem Ausstellungsfonds der Freien und Hansestadt Hamburg, der Hubertus Wald Stiftung und der Justus Brinckmann Gesellschaft. Die digitalen Inhalte ermöglicht der IT-Globalfonds der Freien und Hansestadt Hamburg.
In Kooperation mit der Hamburger Kunsthalle.
Für die Neueinrichtung der Sammlung Jugendstil danken wir unseren Saalpaten:
Jutta und Joachim von Berenberg-Consbruch
Mara und Holger Cassens-Stiftung
Gabriele und Dr. Peter von Foerster
Edgar E. Nordmann
Kunststiftung Christa und Nikolaus W. Schües

Der Katalog wurde gefördert von Edgar E. Nordmann.